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 9. November 2013


Gedenken der reichsweiten November-Progrome 1938 (violett) Erinnerung und Umkehr

Sie haben mich oft bedrängt von meiner Jugend auf - so sage Israel -, (sie haben mich oft bedrängt von meiner Jugend auf); aber sie haben mich nicht überwältigt. Ps 129, 1.2


Am 9. November 2013 jähren sich zum 75. Mal die Novemberpogrome  von 1938 - früher oft (Reichs-) Kristallnacht, jetzt zumeist Reichspogromnacht genannt -  vom nationalsozialistischen Regime organisierte und gelenkte Gewaltmaßnahmen gegen Juden im gesamten Deutschen Reich, bei denen etwa 400 Menschen ermordet oder in den Selbstmord getrieben, über 1.400 Synagogen, Betstuben und sonstige Versammlungsräume sowie tausende Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe zerstört wurden.. Die Pogrome markieren den Übergang von der Diskriminierung der deutschen Juden seit 1933 zur systematischen Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland.


Die  württembergische Arbeitsgruppe „Wege zum Verständnis des Judentums“ hat zu diesem Anlass den Entwurf einer Gedenkstunde (ggf. in einer Kirche) veröffentlicht. (a) Der folgende Vorschlag folgt stärker dem Ablauf der überkommenen Liturgie und nimmt vor allem weitere kirchliche Anregungen auf. Es ist zu erwarten, dass von der Evangelischen Kirche in Deutschland  (EKD)  zeitnah Vorschläge und Materialien zur Gestaltung der kirchlichen Erinnerung dieses Tages veröffentlich werden.     





Vorspiel oder Stille 


Eröffnung (Begrüßung)

Gnade sei mit uns und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. R: Amen.

Vor Gott, in seiner Gnade und Barmherzigkeit der Richter der Welt, gedenken wir heute der Grauen, die unser Volk über die Juden Europas gebracht hat: der Progrome im Deutschen Reich (vor 75 Jahren,) am 9. November 1938, der unzähligen Demütigungen, die schon zuvor stattgefunden hatten, der Qualen der Ausgrenzung und der Deportationen, des himmelschreienden Elends in den Ghettos, der millionenfachen Morde in den Todesfabriken der Konzentrationslagern. Es fällt uns schwer, diese Verbrechen als Teil unserer Geschichte anzunehmen und zu begreifen, dass sie nie verjähren. Diese Wunde wird im Gedächtnis des jüdischen Volkes nie verheilen. Gott mache uns empfindsam für den bleibenden Schmerz der Überlebenden (und ihrer Nachkommen) und ihre leicht zu entfachende Angst. Er mache uns wachsam gegen alte und neue Feindbilder. Gott lasse uns aus der Erinnerung an das Böse Kraft zum Guten erwachsen.  (b) 


Lied zum Eingang: Nimm von uns, Herr, du treuer Gott - EG 146,1-3


Psalmgebet

Votum: So spricht der Hohe und Erhabene, der ewig wohnt, dessen Name heilig ist: Ich wohne in der Höhe und im Heiligtum und bei denen, die zerschlagenen und demütigen Geistes sind, auf dass ich erquicke den Geist der Gedemütigten und das Herz der Zerschlagenen. Jes 57,15

Psalm 38 -  Herr, strafe mich nicht in deinem Zorn (EG 721) 

statt Gloria patri:  Agios o Theos - Heiliger Herre Gott (EG 185.4)


Tagesgebet

Beten wir in der Stille zu Gott, dem Heiligen Israels, der das Leiden seines Volkes nicht vergisst: - Stille -

Ewiger Gott, Richter der Welt. Nicht nur einmal mussten jüdische Menschen die Zerstörung ihrer Gotteshäuser beweinen. Nicht nur einmal hat die Gewalttätigkeit der Feinde ihr Leben zerstört und sie in Angst versetzt. Nicht nur einmal mussten sie in die Fremde gehen und den Verlust alles dessen betrauern, was ihnen Heimat war. Nicht nur einmal wurden unzählige von ihnen ermordet. Im Holocaust hat das Grauen ein unfassbares Ausmaß erreicht. Doch du Gott, du Heiliger Israels, vergisst das Leiden deines Volkes nicht. Du hast alle seine Tränen gesammelt und wirst seine Peiniger zur Rechenschaft ziehen. Gott, vor dir können wir die Schuld unserer Kirche nicht verbergen: die jahrhundertelange Missachtung und Verfolgung der jüdischen Gemeinschaft, das Schweigen, wo Widerstand nötig gewesen wäre. Wir bitten dich, gerechter Gott: Vergib uns um deiner Barmherzigkeit willen und stell uns deinem Volk in neuer Achtsamkeit zur Seite. (c)


Schriftlesung (Prophetie): Sacharja 2,10-13 - Wer euch antastet...

oder Sprüche 24,(10)11.12 (¶) – Errette, de man zum Tode schleppt


Antwortgesang: Aus tiefer Not schrei ich zu dir - EG 299,1+2


Schriftlesung (Epistel): Römer 11,17.18.24-26 - Es wird kommen aus Zion der Erlöser

oder 1. Petrus 5,8-9 (¶) –Seid nüchtern und wacht


Antwortgesang: Darum auf Gott will hoffen ich - EG 299,3+4


[ Schriftlesung (Evangelium): Lukas 22,31-34 (¶)- ... der Satan hat begehrt euch zu sieben ]


[Antwortgesang: Ob bei uns ist der Sünden viel – EG 299,5 ]



[ Texte (d)


Ansprache


Besinnung (Zwischenspiel oder Stille)


Bußgebet

Barmherziger Gott. Es ist in unserem Volk und durch Menschen aus unserem Volk geschehen: Die Gotteshäuser der Juden gingen in Flammen auf, Geschäfte wurden zertrümmert, Wohnungen ruiniert und geplündert, Mitbürger in Angst und Schrecken versetzt; Menschen in Verzweiflung und Tod getrieben. Zu dir, Gott, rufen wir:

G:  Herr, erbarme dich.

Barmherziger Gott, es ist in unserem Volk und durch Menschen aus unserem Volk geschehen: Auch Christen aller Kirchen sahen zu, Christen schauten beiseite, Christen schämten sich, doch nur weninge taten etwas. Gutes wurde unterlassen und Böses getan. Zu dir, Gott, rufen wir:

G:  Herr, erbarme dich.

Barmherziger Gott, dieses Unrecht ist nicht ungeschen zu machen: Das Verbrechen der Nacht des Progroms ist zum Fanal geworden für noch größeres Unheil im Namen unseres Volkes, für den Mord an Millionen von Juden, für den Krieg mit Abermillionen Toten, für das Unheil, das unser Volk auch über sich selbst brachte. Zu dir, Gott, rufen wir:

G:  Herr, erbarme dich.

Barmherziger Gott, in deiner Hand sind alle, die durch Schuld der Menschen haben sterben müssen. Die wir nicht kennen, du kennst sie. Von deren Leiden wir keine Vorstellung haben, du kennst sie. Die unbekannt und unbeweint an irgendeinem Ort dieser Erde ruhen, du kennst sie. Ihrer gedenken wir in dieser Stunde, der unschuldigen Opfer von Rassenwahn und Unmenschlichkeit. - Stille -

Zu dir, Gott, rufen wir:

G:  Herr, erbarme dich.

Barmherziger Gott, wo keine Entschuldigungen oder gar Ausreden verfangen, wo wir ratlos sind und die abgründigen Tiefen des Menschen erkennen, da rufen wir aus der Tiefe unserer Not zu dir. Von deiner Gnade und unverdienten Barmherzigkeit erhoffen wir neuen Beginn mit all denen, die durch unser Volk gelitten haben. Zu dir, Gott, rufen wir:

G:  Herr, erbarme dich.

Barmherziger Gott, gib uns die Einsicht, dass nur deine Vergebung, die du uns in Jesus

Christus zuteil werden lässt, uns in eine bessere Zukunft führen kann. (d)


Vaterunser


Lied zum Ausgang:  Lass uns den Weg der Gerechtigkeit gehn - EG Wü 658,1-4


[ Abkündigungen ]


[ Friedensbitte: Verleih uns Frieden gnädiglich - EG 421 ]


Segenswunsch

Der Herr segne uns mit allem Guten und bewahre uns vor allem Bösen. Er erleuchte  unsere Herzen mit der Einsicht, die zum Leben führt. Und er begnade uns mit ewiger Erkenntnis und erhebe sein huldvolles Angesicht für uns zum ewigen Frieden. (e)


Nachspiel oder Stille



Anhang


ERKLÄRUNG der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in  Norddeutschland

zum 75. Jahrestag des „Novemberpogroms“ 1938

Verabschiedet auf der 3. Tagung der I. Landessynode am 20. September 2013

Die Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland erinnert an das „Novemberpogrom“ vor 75 Jahren am 9./10. November 1938. In dieser Nacht brannten in ganz Deutschland die Synagogen. Ihre Zerstörung machte das gott- und menschenverachtende, rassistische Regime des Nationalsozialismus für alle sichtbar. Jüdische und so genannte „nichtarische“ Mitbürger und Mitbürgerinnen wurden gejagt, gequält, in Konzentrationslager verschleppt und ermordet. Sie wurden vollends zu rechtlosen Opfern staatlicher Willkür.

Die Landessynode bekundet Scham darüber, dass auch die ehemaligen Landeskirchen im Bereich der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland zur Ausgrenzung, Diskriminierung, Vertreibung und schließlich Ermordung ihrer jüdischen Mitbürger und Mitbürgerinnen weithin geschwiegen haben, dass sie die Gewalt teilweise sogar billigten und sich durch eigene rassistische Rechtssetzung schuldig machten. 

Die Landessynode bekennt: Durch antijüdische Auslegungen der Bibel und durch eine entsprechende Verkündigung und Lehre ist Kirche mitschuldig an der jahrhundertelangen Geschichte der Feindseligkeit  gegen Juden im Abendland, ihrer Entrechtung und Verfolgung, die in der fast vollständigen Vernichtung des europäischen Judentums gipfelte. Sie unterstützt alle Bemühungen um eine Aufarbeitung dieser  Schuld. Christliche Verkündigung und Lehre dürfen nie mehr dem Antisemitismus Vorschub leisten.

Die Landessynode bekräftigt das Bekenntnis zur unauflöslichen Verbundenheit mit dem Volk Israel, wie es in der Präambel zur Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland* bezeugt ist. Sie unterstützt alle Bemühungen, durch Wort und Tat, in Lehre, Verkündigung und Begegnung zu einem neuen Verhältnis zum Judentum zu kommen, und bittet die Gemeinden und alle, die in der Nordkirche Verantwortung tragen, arbeiten, wirken und lehren, bei diesen Anstrengungen nicht nachzulassen.


* Aus der Präambel der Verfassung der Nordkirche: „Die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland bezeugt die bleibende Treue Gottes zu seinem Volk Israel. Sie bleibt im Hören auf Gottes Weisung und in der Hoffnung auf die Vollendung der Gottesherrschaft mit ihm verbunden.“


 

Quellen und Vorlagen

Soweit nicht anders angegeben sind Bibelverse wörtlich zitiert aus: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers in der revidierten Fassung von 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

Vorschläge zur Perikopenreform wurden berücksichtigt

[ ] In Klammern gesetzte Stücke können entfallen

a Gespräch zwischen Christen und Juden, Arbeitshilfe für Gottesdienst und Gedenkstunde 

„... dass ihr recht handelt einer gegen den andern“, Bad Boll 2013

b vgl. Ergänzungsband zum Württemb. Gottesdienstbuch, Stuttgart 2004, S. 138 -

Reformierte Liturgie, Wuppertal 1999, S. 153 (S. Bukowski)

c vgl.  Ergänzungsband zum Württemb. Gottesdienstbuch, Stuttgart 2004, S. 137 -

Reformierte Liturgie, Wuppertal 1999, S. 152 (S. Bukowski)

d  z.B. Erklärung der Evangelischen Landeskirche in Norddeutschland (s. Anhang)

z.B. Texte in der Arbeitshilfe „... dass ihr recht handelt einer gegen den andern“, Bad Boll 2013

z.B. Berichte von örtlichen Geschehnissen; 

z.B. Texte aus dem Heft „Erinnerung und Umkehr“ der ACK Baden-Württemberg von 2008

d vgl. Ergänzungsband zum Württemb. Gottesdienstbuch, Stuttgart 2004, S. 137-

Gesellschaft für jüdisch-christliche Zusammenarbeit, München 1988

e vgl. Hessische Agende, Darmstadt 2001, S. 390 (nach Klaus Berger, Psalmen aus Qumran, Stuttgart 1994, S. 19)