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19. Oktober 2015


70 Jahre Stuttgarter Schulderklärung (rot / violett)

So spricht der HERR: Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurückkäme. Jer 8,4



Vorschlag für einen abendlichen Gottesdienst (Vesper)




Eröffnung (Begrüßung)

Gnade sei mit ums und Friede von dem, der da ist und der das war und der da kommt. R: Amen.
Wir gedenken heute der Stuttgarter Schulderklärung, die vor 70 Jahren in der Stuttgarter Markuskirche abgegeben wurde. Am 18. und 19. Oktober 1945 trafen sich die Mitglieder des neu gegründeten Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) unterzeichneten ein Schuldbekenntnis, das gleichzeitig einen Neuanfang signalisierte. Dabei gestanden Vertreter des deutschen Protestantismus ihre Mitschuld daran ein, was Deutsche während der NS-Diktatur an Verbrechen und Unrecht begangen oder stillschweigend zugelassen hatten. „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“ Ein Bewusstsein für die Verstrickungen der Kirche in den Nationalsozialismus und ein persönliches Schuldempfinden habe sich bei einigen Ratsmitgliedern schon in den Monaten vor der Erklärung gezeigt. Die Erklärung selbst war relativ allgemein und eher vage formuliert. Konkrete Schuld wurde nicht beim Namen genannt. Weder war vom millionenfachen Mord am jüdischen Volk on Vernichtungslagern wie Auschwitz, Sobibor und Treblinka, noch von den Verbrechen an Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen die Rede. Die Formulierungen im Komparativ („nicht mutiger“, „nicht treuer“, „nicht brennender“) können so verstanden werden, dass durchaus viel Mut, Treue und Brennen vorhanden gewesen seien, aber eben nicht genug. Die Verstrickungen mit dem Regime und das unselige Wirken der „Deutschen Christen“ sowie der Antisemitismus in der Kirche finden keine Erwähnung. Innerhalb Deutschlands traf das Dokument zum Teil auf heftige Ablehnung. Zahlreiche Menschen fühlten sich für Verbrechen in Mithaftung genommen, obwohl sie sich unschuldig fühlten. In ihrer Selbstwahrnehmung waren sie Opfer, nicht Täter. Dch ebnete das Bekenntnis den Weg zur Aussöhnung mit den ausländischen Schwesterkirchen. Auch einer Rehabilitierung deutscher Protestanten und einer Mitarbeit in weltweiten ökumenischen Gremien wurde der Weg gebahnt. Das Dokument stand am Anfang einer Kette von Beschlüssen, die das demokratische Denken im Protestantismus verankert haben. Solche demokratischen Ansätze hattee es in der regimekritischen „Bekennenden Kirche“ noch nicht gegeben. Außerdem habe die evangelische Kirche ihre „Wächterfunktion“ entdeckt, mit der sie seitdem die Politik kritisch begleite. Entgegen dem positiven internationalen Echo löste das Wort der Kirchenmänner in den Gemeinden einen Sturm der Empörung aus. Viele sahen in dem Stuttgarter Bekenntnis eine Nestbeschmutzung und Anerkennung der Kollektivschuld der Deutschen. Doch nicht um die pauschale Verdammung eines ganzen Volkes ging es, sondern - wie es der spätere Bundespräsident Theodor Heuss formulierte - um eine „Kollektivscham“, dass die Deutschen ein Regime zugelassen hatte, das Terror und unsagbares Leid über Millionen Menschen brachte. Der Aufruf der EKD-Gründer, „in unseren Kirchen einen neuen Anfang“ zu wagen, verhallte damals vielerorts noch ungehört. Heute ist das Stuttgarter Bekenntnis längst als ein Meilenstein und Wendepunkt in der deutschen Zeit- und Kirchengeschichte anerkannt.(a)


[ Eröffnung (Ingressus): Herr, bleibe bei uns (EG Wü  781.1)


Lied: Aus tiefer Not lasst uns zu Gott (EG 144 in Auswahl)

oder ein anderer Bußgesang


Psalmgebet

Votum: Suchet den HERRN, solange er zu finden ist; ruft ihn an, solange er nahe ist. Der Gottlose lasse von seinem Wege und der Übeltäter von seinen Gedanken und bekehre sich zum HERRN, so wird er sich seiner erbarmen und zu unserm Gott; denn bei ihm ist viel Vergebung.  Jes 55,6.7

Psalm 32 – Wohl dem, dem die Übertretungen vergeben sind (EG 717)

oder ein anderer Bußpsalm


Tagesgebet

Barmherziger Gott, wie oft müssen wir erschreckend erfahren, dass wir als Kirche versagen und ohne deine Gnade nicht unversehrt bestehen können. Darum führe uns zur Umkehr. Reinige und erneuere deine Kirche, erfülle sie mit deinem Geist und leite sie durch alle Gefährdung und Anfechtung hindurch. Gib ihr in Bedrängnis Frieden, in Verzagtheit Kraft, in Zweifel Gewissheit und in der Erstarrung den Mut zum Aufbruch. So bitten wir durch Jesus Christus, unsern Herrn. (b)


Prophetie: Jeremia 14,7-11 – Wenn unsere Sünden uns verklagen...


Antwortlied: Und suchst du meine Sünde (EG 237,1-3)


Evangelium: Matthäus 5,13-16 – Salz und Licht


Antwortlied: Freunde, dass der Mandelzweig (EG Wü 655,1-4)


Verlesung der Stuttgarter Schulderklärung (c)


Betrachtung 


Hymnus: Komm, Gott Schöpfer, Heiliger Geist (EG 126,1-7)                                                                                              


[ Canticum: Magnificat - Christus, unsern Heiland (EG Wü 781.6)


Fürbitten

Lasst uns beten, dass wir uns als Kirche immer wieder dem stellen und prüfen, wozu wir in unserem öffentlichen Auftrag in der Welt berufen sind; dass wir bereit werden, ehrlich einzugestehen, wo wir als Kirche versagt haben, indem wir angesichts der Forderungen der Gegenwart nicht mutiger die Botschaft des Evangeliums bekannt haben; dass wir nicht treuer um den Geist des Friedens gebetet haben; dass wir trotz eigener Gefährdungen nicht fröhlicher geglaubt und bedrohte und leidende Menschen und Gruppen nicht brennender geliebt haben und für sie eingetreten sind – rufen wir miteinander:

G:  Kyrie eleison

Lasst uns beten um Klarheit und Kraft von Gott, dass wir als Kirche im Wandel der Zeit und unter sich ändernden Bedingungen beim Auftrag Jesu Christi bleiben, seiner Berufung  folgen und die in ihm geschenkte Freiheit leben - rufen wir miteinander:

G:  Kyrie eleison.

Lasst uns darum beten, dass uns als Kirche in unserer Verkündigung, mit den gefeierten Gottesdiensten und durch unser ganzes Leben gelingt, Menschen unserer Tage mitzunehmen in die Begegnung mit dem lebendigen Gott - rufen wir miteinander:

G:  Kyrie eleison.

Lasst uns darum beten, dass wir als Kirche fähig werden, eine biblisch ausgerichtete Zeitgenossenschaft zu leben; dass uns das engagierte und offene Gespräch mit Wissenschaft, Kultur, Bildung und Politik möglich wird; dass wir in den verschiedenen Felder des gesellschaftlichen Leben unsere Verantwortung wahrnehmen - rufen wir miteinander:

G:  Kyrie eleison.

Lasst uns darum beten, dass wir als Kirche gestärkt werden in unserem Bemühen, als Gemeinschaft das zu leben, was wir lehren und verkündigen; dass wir solidarisch sind mit denen, die besonderer Zuwendung bedürfen; dass wir nach Kräften helfen, uns für Menschen einzusetzen und für sie zu beten - rufen wir miteinander: (d)

G:  Kyrie eleison.


Vaterunser


Schlussgesang: Lass mich dein sein und bleiben (EG 157)


Lobpreis und Segen


Anhang

Die Stuttgarter Schulderklärung

Der Rat der Evangel. Kirche in Deutschland begrüsst bei seiner Sitzung am 18./19. Okt. 1945 in Stuttgart Vertreter des Ökumenischen Rates der Kirchen.
Wir sind für diesen Besuch um so dankbarer, als wir uns mit unserem Volk nicht nur in einer grossen Gemeinschaft der Leiden wissen, sondern auch in einer Solidarität der Schuld. Mit grossem Schmerz sagen wir: Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden. Was wir unseren Gemeinden oft bezeugt haben, das sprechen wir jetzt im Namen der ganzen Kirche aus: Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat; aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.
Nun soll in unseren Kirchen ein neuer Anfang gemacht werden. Gegründet auf die Heilige Schrift, mit ganzem Ernst ausgerichtet auf den alleinigen Herrn der Kirche gehen sie daran, sich von glaubensfremden Einflüssen zu reinigen und sich selber zu ordnen. Wir hoffen zu dem Gott der Gnade und Barmherzigkeit, dass er unsere Kirchen als sein Werkzeug brauchen und ihnen Vollmacht geben wird, sein Wort zu verkündigen und seinem Willen Gehorsam zu schaffen bei uns selbst und bei unserem ganzen Volk.
Dass wir uns bei diesem neuen Anfang mit den anderen Kirchen der ökumenischen Gemeinschaft herzlich verbunden wissen dürfen, erfüllt uns mit tiefer Freude.
Wir hoffen zu Gott, dass durch den gemeinsamen Dienst der Kirchen, dem Geist der Gewalt und der Vergeltung, der heute von neuem mächtig werden will, in aller Welt gesteuert werde und der Geist des Friedens und der Liebe zur Herrschaft komme, in dem allein die gequälte Menschheit Genesung finden kann.
So bitten wir in einer Stunde, in der die ganze Welt einen neuen Anfang braucht: Veni creator spiritus! 

Stuttgart, den 18./19. Okt. 1945 (e)

Handschriftlich unterzeichnet ist die Erklärung von:

D. Wurm (Württ. Landesbischof) Asmussen DD (Präsident der Kirchenkanzlei der EKD) H. Meiser (Landesbischof Bayern) Held (Pfarrer in Essen, später Präses der Rhein. Kirche) Dr. Lilje (Generalsekretär des Lutherischen Weltkonvents, später Landesbischof in Hannover) Hahn (Pfarrer, später sächs. Landesbischof) Lic. Niesel (Pfarrer, Theologieprofessor, später Moderator des Reformierten Bundes) Smend D.Dr. (Theologieprofessor) Dr. G. Heinemann (Rechtsanwalt, später Bundespolitiker und Bundespräsident) Dibelius (Bischof von Berlin-Brandenburg) Martin Niemöller D.D. (Pfarrer, später Kirchenpräsident von Hessen-Nassau)


Quellen und Vorlagen


Soweit nicht anders angegeben sind Bibelverse wörtlich zitiert aus: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers in der revidierten Fassung von 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung, © 1999, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

a nach einem Artikel in den Stuttgarter Nachrichten (5. 10. 2015)

b vgl. Evangelisches Gottesdienstbuch, Berlin 2000, S. 437 und 455

c vgl. Anhang

d vgl. Motive der Kundgebung der 10. EKD-Synode „evangelisch Kirche sein“

e siehe EG Wü 837